Der Oscar-Favorit im Heimkino: ANATOMIE EINES FALLS
Vor etwas mehr als einem Jahr traf ich Sandra Hüller während der Berlinale in den Räumlichkeiten des Verleihs DCM, um mit ihr über „Sisi & Ich“ zu sprechen. Die Filmfestspiele von Cannes, auf dem ihr nächster Film ANATOMIE EINES FALLS Premiere feiern und mit der Goldenen Palme ausgezeichnet werden sollte, lag noch in weiter Ferne – und dass sie für einen Oscar als Beste Hauptdarstellerin nominiert werden könnte, war damals natürlich auch noch nicht abzusehen. Mir begegnete eine ebenso reflektierte wie zugewandte und sympathische Frau, die zu ihrer Herkunft steht, wie sie kürzlich auch US-Talkmaster Jimmy Kimmel erklärte. Sie komme aus Thüringen, das sei „the green heart of Germany“ - und von der Oscarnominierung habe sie erfahren, als sie gerade den Müll raus brachte.
Genau diese natürliche Authentizität ist es, mit der Sandra Hüller in ANATOMIE EINES FALLS verfängt. Wenn ihre Figur, eine Romanautorin, in Rückblenden mit ihrem Ehemann (Samuel Theis) eskalierend darüber streitet, dass er beim Unterrichten des gemeinsamen Sohnes (Milo Machado-Graner) kaum mehr Zeit für sich hat, dann wirkt das glaubwürdig. Wenn sie nach dem rätselhaften Tod ihres Ehemanns – war der Sturz aus dem Dachfenster es ein tragischer Unfall, war es Mord? - vor Gericht nonchalent zwischen Französisch und ihrer Muttersprache Deutsch wechselt, bedarf es bei der inneren Aufgewühltheit ihrer Figur keiner Erklärung. Ein lesbischer Seitensprung? Wirft kein gutes Licht auf ihre widersprüchliche Figur, die sich (natürlich!) vehement um Einordnung bemüht. Es sind keine großen Gesten, mit denen Sandra Hüller spielt, bis sie (scheinbar) komplett mit ihrer Figur verschmilzt.
Das passt hervorragend zum realistischen Stil von Justine Triet, die für Regie und Drehbuch ebenfalls für den Oscar nominiert ist: In nüchternen Bildern und ohne großes musikalisches Brimborium fokussiert ANATOMIE EINES FALLS ohne ablenkendes Beiwerk den Gerichtsprozess und die fragile Beziehung des Ehepaars. Das tut der Film vielleicht etwas zu gründlich (und sicher für Wenige mit unbefriedigendem Ausgang), was man bei einer Laufzeit von 145 Minuten auch negativ ankreiden könnte. Auf der DVD ist als überschaubarer Bonus neben einem 7-minütigen französischen Feature zum Hundetraining ein 9-minütiges Interview von „Spätvorstellung – Das Kinomagazin“ mit Sandra Hüller enthalten. Regisseurin und Co-Autorin Justine Triet wusste vermutlich, was sie „gut können würde oder so“, so die Ausnahmeschauspielerin über ihre Besetzung bescheiden – was dann doch wenig überraschend ist.
LUTZ GRANERT
Titel: ANATOMIE EINES FALLS
Label: Plaion Pictures
Land/Jahr: Frankreich 2023
FSK & Laufzeit: ab 12, ca. 145 Min.
Verkaufsstart: 29. Februar