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We Are The Flesh

gebärmutter der grausamkeit

GEBÄRMUTTER DER GRAUSAMKEIT

Suggestiver Fiebertraum, laszive, symbolische Fabel über den moralischen Zustand Mexikos, wenn nicht der Welt, oder doch nur senile wie wirre Fantasie eines Mannes, der wieder in seine Gebärmutter zurückmöchte. WE ARE THE FLESH, der neben der normalen DVD und Blu-Ray auch als limitiertes Mediabook mit zwei Covervarianten für Sammler erscheint,  möchte sich reiben und den offenen Zuschauer beglücken.

WE ARE THE FLESH könnte nichts Geringeres sein als der Startschuss für eine neue Welle mexikanischer Filmemacher, die sich aus dem Schatten ihrer Vorgänger erheben könnten, welche seit Anfang des neuen Jahrhundert Mexiko auf der Filmlandkarte wieder fest verorteten. Das potentiell Neue hat mit WE ARE THE FLESH aber schon einen kraftvollen Vertreter, der es verdient, nicht alleine zu stehen. Doch diese Frischzellenkur bekommt kräftige Unterstützung von Alteingesessenen. Niemand Geringeres als „Birdman“- und „The Revenant“-Schöpfer Alejandro Gonzalez Iñarritu hat Regisseur Emiliano Rocha Minter bei der Verwirklichung seines ersten Spielfilms unter die Arme gegriffen. Und Carlos Reygadas, der mit „Japón“ 2002 seinerseits den ersten künstlerischen Achtungserfolg seiner Generation feierte, ist der Produzent des Films.

Mit diesen beiden Namen ist auch die Richtung vorgegeben. WE ARE THE FLESH trägt das Fleisch nicht nur im Namen, sondern ist vor allem körperliches Kino. So vage sich das postapokalyptische Szenario auch in der Realität verortet, so deutlich arbeitet es sich an seinen Leibern ab. Metaphorisch wie konkret. Heißt, ein mittelalter Mann lebt alleine in einem verfallenen Haus, vielleicht ein ehemaliges Bürogebäude dem Aussehen nach, und was sich außerhalb desselben zuträgt, ist nicht nachzuvollziehen. Das Außen wird kaum bis nicht angesprochen, und gezeigt wird es schon gar nicht. Sein Handeln ergibt so wenig Sinn wie seine Nahrungsmittelversorgung, die er aus einem Schlitz unter einer Mauer im Gegenzug für irgendwelche Tauschobjekte bezieht. Es ist kaum festzustellen, mit was wir es zu tun haben, zumindest bis ein Geschwisterpaar auftaucht. Sadomasochistisch vertieft sich die Beziehung zwischen den dreien, wobei alle zusammenarbeiten, Einzelne sterben und sich von der Kamera lasziv verfolgt selbst oder gegenseitig befriedigen. Alles Soziale in WE ARE THE FLESH wird an einem Körper ausagiert, weshalb viel Fleisch, leicht bekleidete Körper und Wunden zu sehen sein werden.

Hehres Ziel des Mannes ist dabei, in dem Gebäude eine Gebärmutter aus Pappmaché nachzubauen. Einen Raum entstehen zu lassen, der den Schmerz der Geburt von ihm nehmen soll. Die Zweifel, das aus der Geborgenheit Geworfene, die Moral sollen von ihm abfallen. Mit so einem haben wir es zu tun, und die beiden Geschwister scheinen sich nur bedingt an dem Vorhaben zu stören. Jedenfalls nicht an der Verwirklichbarkeit seines Sehnens. In diesem Leib, in den sie sich nun einbauen, eskaliert nun nicht nur das Geschehen bei noch ein paar draufgelegten Schippen Surrealität, auch die Farben werden zunehmend nicht mehr naturalistisch eingesetzt. Drückendes Rot, gefrorenes Blau, einzelne Farbtöne stilisieren zunehmend die Szenen und intensivieren das abstrakte Geschehen um Sex, Flucht vor dem Sein als Menschen und Tod durch Masturbation. Eine Disco des Fleisches, die jedes intellektuelle Streben hinten anstellt und im ersten Schritt eine Erfahrung ist.

Und so gliedert sich WE ARE THE FLESH nicht nur, wenn auch etwas abstrakter, in den Opus des neueren mexikanischen Kinos ein, sondern schließt sich an eine eher ältere Tradition. Ende der 60er, Anfang der 70er hatte schon ein anderer seine Hochzeit, die in den letzten Jahren wieder zunehmend Würdigung erhielt. Alejandro Jodorowsky hat mit surrealen, sinnlichen Bilderstürmen auch den Körper für das Kino und den Zuschauer erlebbar machen wollen. Seine Filme sollten einem Eimer Blut gleichen, der über die Reihen vor der Leinwand ergossen werden würde. Doch er sagte von selbst einst, dass er kein Moralist sei. Sein Theater der Grausamkeiten war ein zerstörerisches, das sich mit blinden universellen Themen wie Glauben, Unterdrückung und Sinnsuche auseinander setzte.

Mit den letzten Bildern von WE ARE THE FLESH macht Emiliano Rocha Minter jedoch klar, dass sein Symbolismus einen ganz zeitgeistlichen Anspruch hat. Einer verlorenen Gesellschaft wird mittels in pumpendes Rot getauchten, sich windenden Leibern ein Spiegel vorhalten. Durch die sich vollziehende Wiedergeburt in der künstlichen Gebärmutter verlieren sich zunehmend mehr Menschen in Orgien und durchgeschnittenen Kehlen. Sie verlieren sich in einem Rausch aus blutigem Leidverzicht. Wer aber letztlich wissen will, wie es in diesem Leib ist, muss ihn selbst betreten.

 

ROBERT WAGNER

 

PRODUKT-INFO

Titel: WE ARE THE FLESH

Land/Jahr: Mexiko/Frankreich 2016

Label: Donau Film

FSK & Laufzeit: ab 18, ca. 82 Min.

Verkaufsstart: 9. Dezember 

 

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