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Zwischen Küste und Meuterei

Monkey D. Luffy aus dem legendären Manga „One Piece“ ist nicht der erste junge Pirat, der die Flimmerkisten abenteuerlustiger Zuschauer entert. DIE SCHATZINSEL aus dem Jahr 1978 ist ein Anime-Klassiker mit literarischen Wurzeln, Piraten und Schätzen, die nicht nur aus Gold und Edelsteinen bestehen.

Jim Hawkins ist 13 Jahre alt und ein aufgeweckter Bursche. Mit seiner Mutter lebt er in der Gaststätte Admiral Benbow und führt ein normales Leben – bis zu dem Tag, an dem ihm eine geheimnisvolle Schatzkarte in die Hände fällt.

Nichts hält den abenteuerlustigen Jungen mehr. Gemeinsam mit dem wohlhabenden Mr. Trelawney und dem Arzt Dr. Livesey sticht er mit dem großen, mächtigen Schiff Hispaniola in See – ohne zu ahnen, dass der eigens eingestellte, charmante Schiffskoch John Silver eine unaussprechliche Meuterei plant.

Als Jim schließlich die auf der Karte markierte Schatzinsel erreicht, entbrennt ein Kampf zwischen Loyalität und Verrat – zwischen kindlicher Bewunderung und bitteren Lektionen. Jim muss sich in jungen Jahren entscheiden, wem er vertrauen kann – und was der wahre Wert von Freundschaft und Kameradschaft bedeutet.

Stil mit Charakter

Die Serie wurde von einem der ältesten Animationsstudios Japans produziert: Tokyo Movie Shinsha – kurz TMS. Seit 1996 produziert das Studio beispielsweise „Detektiv Conan“. Regie führte Osamu Dezaki, der auch für die Umsetzung des bis heute beliebten Animes Die Rosen von Versailles verantwortlich war. Ihm verdankt der Anime eine besondere Eigenschaft, die viele seiner Werke prägte – die sogenannten Postcard Memories.

Dabei handelt es sich um eingefrorene Szenen, die mit einem malerischen Filter hinterlegt sind. Sie unterstreichen visuell einen emotionalen oder actionreichen Höhepunkt, während die in der Szene verwendeten Farben und Effekte erhalten bleiben.

Das Charakterdesign stammt von Akio Sugino, die den Figuren – selbst dem jungen Jim – markante Gesichter verleiht, die stets voneinander unterscheidbar sind. Ausdrucksstarke Augen und dynamische Posen verleihen den Charakteren Tiefe und lassen die Animationen fließend und lebendig wirken.

Abenteuer in Moll und Dur

Kentaro Hanedas Kompositionen lassen die Serie auf weiter See mit melancholischen und heroischen Klängen segeln. Das Opening Takarajima und der Abspann Chiisana Funanori sind melodisch einprägsam und spiegeln die Dualität der Serie wider – es geht nicht allein um ein Piratenabenteuer, sondern um eine Reise ins eigene Innere.

Die Musik schafft es, sowohl die kindliche Neugier des jungen Jim zu tragen als auch die erwachsene Nachdenklichkeit zu transportieren, die sich bei allen Altersgruppen der Zuschauenden bemerkbar macht.

Überraschend nuanciert

Die deutsche Fassung lief erstmals 1994 auf RTL II und überzeugt mit stimmlicher Vielfalt – die auch auf der DVD von PIDAX erhalten bleibt. Jim klingt jugendlich und impulsiv, sein Gefährte Dr. Livesey – passend zur Figur – ruhig und gebildet.

Der zweischneidige Silver hingegen ist charismatisch und ambivalent – er balanciert zwischen väterlicher Wärme und unterschwelliger Bedrohung und zeigt, was die richtige Sprecherwahl bewirken kann.

Stevenson trifft Anime

Tatsächlich basiert der Anime DIE SCHATZINSEL auf dem Buch „Treasure Island“ von Robert Louis Stevenson, das 1883 erstmals veröffentlicht wurde.

Der Anime bleibt in vielen Punkten erstaunlich nah an der literarischen Vorlage. Die Hauptfiguren Jim, Silver und Dr. Livesey sind direkt aus dem Buch übernommen und behalten ihre zentralen charakterlichen Eigenschaften bei.

Hervorzuheben ist, dass die moralische Zweischneidigkeit Silvers – Freund und Feind zugleich – im Anime besonders betont wird, erweitert durch visuelle Effekte. So wird er oft in Szenen gezeigt, in denen sein Gesicht halb im Schatten liegt. Das unterstreicht seine innere Zerrissenheit: hell, wenn er Jim gegenüber warmherzig ist, dunkel, wenn seine manipulative, eigennützige Natur zum Vorschein kommt.

Die Meuterei, die Schatzsuche und der spätere Inselkonflikt folgen dem literarischen Plot, werden aber durch zusätzliche Episoden und Szenen emotional vertieft. Jims innere Zerrissenheit zwischen Bewunderung und Enttäuschung gegenüber Silver ist im Buch ein zentrales Thema – im Anime wird sie visuell und musikalisch noch stärker hervorgehoben.

Fazit: Ein Schatz, der bleibt

DIE SCHATZINSEL ist mehr als eine Adaption – sie ist ein visuelles und erzählerisches Abenteuer, das literarische Tiefe mit Anime-Ästhetik verbindet. Die Serie schafft es, kindliche Neugier und erwachsene Reflexion zu vereinen – getragen von ausdrucksstarker Animation, atmosphärischer Musik und einer überraschend nuancierten deutschen Synchro.

Besonders Long John Silver bleibt als ambivalente Figur im Gedächtnis – ein Mann zwischen väterlicher Wärme und eigennütziger List, inszeniert mit meisterhafter Symbolik. Für Fans klassischer Literatur, Anime-Geschichte und emotionaler Coming-of-Age-Erzählungen ist dieser Schatz ein zeitloser Fund.

LILI SCHMIRGAL

Originaltitel: DIE SCHATZINSEL
Regie: Osamu Dezaki
Genre: Adventurer, Shonen
Länge: 624 Minuten
Label: Pidax
Land/ Jahr: Japan /1978
FSK: 12

 

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