Geschwisterliebe auf Norwegisch

Wer dachte, dass skandinavisches Kino nur düstere Krimis zu bieten hat, wird mit TABU – DIE VERFÜHRUNG MEINER SCHWESTER eines Besseren belehrt. Regisseurin Anne Sewitsky entfaltet ein intensives Drama voller emotionaler Wucht.

Anne Sewitsky ist eine Meisterin darin, menschliche Abgründe mit erschreckender Eleganz auszuloten. In TABU – DIE VERFÜHRUNG MEINER SCHWESTER wirft sie einen mutigen Blick auf ein Thema, das gemeinhin als unsagbar gilt – und erzählt dabei eine Geschichte, die so fesselnd wie verstörend ist. Dass dieser Film, der bereits 2015 produziert wurde, erst jetzt den deutschsprachigen Raum erreicht, ist ein Versäumnis, das dringend korrigiert werden musste.

Das Drama dreht sich um die Halbgeschwister Charlotte (Ine Marie Wilmann) und Henrik (Simon J. Berger), die sich in ihrer gesamten Kindheit und Jungend nie kennenlernten. Nun als Mittzwanziger treffen sie nun erstmals aufeinander. Was als behutsame Annäherung beginnt, entwickelt sich zu einer verhängnisvollen sexuellen Anziehungskraft. Doch statt moralinsaurer Empörung liefert Sewitsky eine feinfühlige Charakterstudie, die sich konsequent auf ihre Figuren konzentriert. Ohne billige Skandalisierung und frei von melodramatischen Ausbrüchen setzt sie auf leise Töne, die umso eindringlicher nachhallen.

Die Kameraarbeit ist exzellent: Jede Einstellung ist durchdacht, die Bilder atmen eine fast unheimliche Intimität. In Kombination mit einem zurückhaltenden, aber präzisen Drehbuch entfaltet der Film eine subtile, beklemmende Spannung. Besonders Ine Marie Wilmann brilliert als Charlotte – sie spielt mit einer nuancierten Mischung aus Verletzlichkeit, Sehnsucht und innerem Chaos, die dem Film eine ungeheure emotionale Wucht verleiht.
Anne Sewitsky inszeniert mit Fingerspitzengefühl ein gewagtes Thema und beweist, dass großes Kino dort beginnt, wo andere Filme enden. TABU – DIE VERFÜHRUNG MEINER SCHWESTER ist ein Geschenk für Fans anspruchsvoller Dramen. 

PETER ELWE