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Die Vierhändige

Die Vierhändige

Der Kampf zweier Schwestern

Sophie und ihre Schwester Jessica leben seit einer furchtbaren Tragödie in konstanter Angst. Beide Schwestern versuchen auf ihre Art, mit ihrem Leben nach dem Unglück fertig zu werden. Oliver Kienles neuster Kinofilm ist ein fulminanter Psychothriller zwischen Verzweiflung und Hoffnung, zwischen Licht und Schatten.

Die beiden Schwestern Sophie (Frida-Lovisa Hamann) und Jessica (Friederike Becht) sind als Kinder Zeugen eines schrecklichen und brutalen Verbrechens geworden. Aus Jessicas Versprechen, immer auf die kleinere Schwester aufzupassen, ist eine krankhafte Obsession geworden. Sophie will nichts anderes, als ihr altes Leben hinter sich lassen und noch einmal von vorne anzufangen, sich eine Karriere als Konzertpianistin aufbauen und sich verlieben. Doch ihre große Schwester leidet unter Wahnvorstellungen und Angstzuständen, krankhaft überwacht sie ihre kleine Schwester.

Als die Täter nach 20 Jahren aus dem Gefängnis entlassen werden, eskaliert die Situation zwischen den beiden, was in einem tragischen Unfall endet. Der Tod von Jessica befreit auch Sophie aus ihrem Gefängnis, und sie kann langsam lernen, auf eigenen Beinen zu stehen, doch seltsame Alpträume, Erscheinungen und Anrufe holen sie in die Realität zurück – ist Jessica wirklich tot, oder beschützt sie sie noch immer? Ist sie so sicher, wie sie dachte?

Der Regisseur Oliver Kienle, der bereits mit seinem mit dem Publikumspreis des Max-Ophüls-Filmfestivals ausgezeichneten Diplomfilm „Bis aufs Blut“ für Furore bei deutschen Kritikern sorgen konnte, meldet sich mit einem packenden Thriller ums Loslassen, Weitermachen und Rachenehmen zurück. Dass Kienle große Ambitionen hat, lässt sich auch an seiner Mitarbeit als Headautor der internationalen Serie „Bad Banks“ sehen, die Anfang 2018 im deutschen Fernsehen ausgestrahlt werden soll. Mit DIE VIERHÄNDIGE folgt er seinem ambitionierten Weg und schafft einen Film, der im deutschen Kino seinesgleichen sucht.

Ein Film, der ohne Frage auch ein internationales Publikum anspricht und sich dabei auch einer gewissen deutschen Trägheit und Verschrecktet entzieht. DIE VIERHÄNDIGE hat wenig zu tun mit der Harmlosigkeit und Berechenbarkeit eines deutschen TV-Krimis, sondern findet seine Wahlverwandtschaft vielmehr bei unseren skandinavischen Nachbarn, die schon viel früher gelernt haben, welche Intensität und Transzendenz ein spannender Psychothriller haben kann. So ist es mit Sicherheit auch kein Zufall, dass Jessica der Figur Rooney Maras in David Finchers „Verblendung“ ähnelt. Kienle hat sich bewusst dafür entschieden, die Geschichte aus der Sicht der beiden Frauen zu erzählen und nicht, wie es doch bis dato üblich ist, fast immer aus rein männlicher Perspektive.

Mit Frida-Lovisa Hamann und Friederike Becht wurden hierfür genau die richtigen Darstellerinnen gefunden, beide spielen mit so viel Intensität und Glaubwürdigkeit, dass es einem manchmal den Atem nimmt. Gerade da es bisher recht unbekannte Gesichter sind, wirkt ihr Spiel unverbraucht und ehrlich. Nicht nur im unterschiedlichen Äußeren und Charakter der beiden Schwestern zeigt sich die Differenz der beiden Erzählstränge, auch im Spiel mit Licht und Schatten werden die Grenzen und Übergänge zwischen den beiden Leben deutlich. Sophies Welt, eine Welt voller Hoffnung und Zuversicht, ist eingetaucht in warmes, helles Licht, untermalt von klassischer Musik – Jessicas Welt ist hart, kalt und dunkel, sie geht in schäbige Clubs und umgibt sich mit zwielichtigen Gestalten. Sophie und Jessica sind dabei wie das Yin und das Yang einer gespaltenen Seele: Der eine Teil kommt ohne den anderen nicht aus, auch wenn man es sich noch so sehr wünscht. Diese innere und äußere Zerrissenheit der Schwestern ist genau dieses Motiv, welches auch aus Filmen wie „Fight Club“, „Memento“ und anderen bekannt ist, und das Kienles Zweitwerk so viel Tiefgang und Eindringlichkeit verleiht. Zuweilen ist man sich selber nicht mehr sicher, ob man seinen eigenen Augen trauen darf, oder ob das Schicksal der beiden Frauen doch viel mehr miteinander verschlungen ist, als man zunächst glauben soll. Als Mittler zwischen den beiden und als Stimme der Vernunft steht Martin (Christoph Letkowski), der Assistenzarzt, in den sich Sophie verliebt. In einem intensiven Psychothriller wie diesem sind Figuren wie die von Martin bitter nötig, denn sie geben einem die Hoffnung, dass es besser werden kann.

DIE VIERHÄNDIGE ist ein Paradefilm seines Genres, zieht er doch alle Register eines Psychothrillers. Die Kameraarbeit und die Ausleuchtung geben dem Film einen Neo-Noir-Look und verlieren sich dabei aber nicht in einer Überästhetisierung von Filmmomenten, sondern räumen der Erzählung und ihren Protagonisten genug Raum ein, um sich zu entfalten. So bleibt der Film bis zur letzten Minute spannend und energiegeladen und gibt sich nicht mit einfachen Antworten zufrieden. Letztendlich ist der Film zwar ein brutaler Psychothriller mit all seinen Facetten, doch in seinem Kern ist es die Geschichte zweier Frauen, die mit allen Mitteln versuchen, ein viel tiefer liegendes Trauma zu bewältigen und ein neues Leben zu beginnen.

ELISABETH WENK

Titel: DIE VIERHÄNDIGE

Label: Camino Filmverleih

Land/Jahr: Deutschland 2017

FSK & Laufzeit: ab 16, ca. 94 Min.

Kinostart: 30. November

 

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