Die Welt brennt
Das Sachbuch GRAD°JETZT nimmt mit an Orte, wo der Klimawandel besonders deutlich wird.
Beim Domino stehen alle Steine in einer Reihe. Sind sie mit richtigem Abstand gesetzt, wird nach dem Anstoßen des äußersten Steins eine Kettenreaktion in Gang gesetzt: Alle weiteren Steine fallen um. Die Kipppunkte im Klimasystem gleichen einer Partie Domino, sind aber kein Spiel: Werden diese überschritten, so treiben diese eigentlich klimaschützenden Systeme den Klimawandel immer stärker und unaufhaltsam voran. Die Umweltjournalistin Louisa Schneider ist im Auftrag von Greenpeace zusammen mit den Fotografen Markus Mauthe und André D’Elia an ebenjene Kipppunkte, also quasi die vorderste Front des Klimawandels gereist. Sie besuchte unter Lebensgefahr durch illegale Holzfäller-Banden (Grilleiros) die in Brand gesteckten Regenwälder Brasiliens, machte sich im Senegal ein Bild von den im Meer versinkenden Siedlungen, stand am Rande der giftigen Ölseen nahe des kanadischen Fort McMurray und sah das schmelzende Eis Grönlands aus nächster Nähe. Besonders eindrucksvoll stehen sich beide Seiten des Klimawandels bei ihrem Besuch in Australien gegenüber. Während die Korallen des Great Barrier Reef durch die steigenden Meerestemperaturen ausbleichen (und damit ihre Schutzfunktion für die Küsten verlieren), wird auf dem Kontinent in der weltweit größten Mine Steinkohle abgebaut und nach Indien zur Verbrennung verschifft – was den Klimawandel im doppelten Sinne weiter befeuert. Ihre unmittelbaren Beobachtungen und Begegnungen vor Ort hat Louisa Schneider im Stil einer sehr langen Reportage in GRAD°JETZT dokumentiert.
Der Tenor ist eindeutig: Ändert sich nichts am Kapitalismus, in dem reiche Industrienationen nicht nur die Natur, sondern auch arme Länder und insbesondere die klimaneutral lebenden Ureinwohner vor Ort ausbeuten, sieht es mit der künftigen Existenzgrundlage für uns Menschen düster aus. Dabei unterfüttert sie ihre alarmierenden Beobachtungen (im Mittelteil des Buches finden sich 16 Seiten mit Fotos) mit zahlreichen Hintergrundinformationen: die Referenzen reichen von Presse-Artikeln bis zu Beiträgen in Fachmagazinen. Nun kann man ihre Lösungsansätze für die Klimakrise, die Korruption und ein global verflochtenes Wirtschaftssystem als große Hindernisse weitgehend ausklammert, ebenso infrage stellen wie ihren eigenen CO2-Fußabdruck, der mit Flugreisen für die Recherche notwendig war. Trotzdem macht GRAD°JETZT Mut, auch weil Louisa Schneider zahlreiche Akteure vorstellt, die sich gegen die Umweltzerstörung engagieren – entsprechend des Narrativs von der Notwendigkeit von politischen Aktivismus, für den es noch bzw. nie zu spät ist. Ein wichtiges Buch, das zum Anpacken gegen den Klimawandel animiert!
LUTZ GRANERT
Titel: GRAD°JETZT: WARUM WIR DIE HOFFNUNG NICHT AUFGEBEN DÜRFEN – EINE REISE ZU DEN KLIMABRENNPUNKTEN UNSERES PLANETEN
Autorin: Louisa Schneider
Verlag: Knesebeck
Erscheinungsform & Seitenzahl: Broschiert, 272 Seiten
Verkaufsstart: veröffentlicht
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