Zum Hauptinhalt springen

Weiblich und visionär in Osteuropa

Beim 17. goEast Festival des mittel- und osteuropäischen Films in Wiesbaden, das vom 26. April bis 2. Mai stattfand, widmeten sich zwei Retro­spektiven dem Schaffen weiblicher Regisseure. Einige Eindrücke.

Eine Frau steigt in die Kabine eines Kleinfliegers und wird von den Piloten in Richtung Hangar geschoben. Das soll nur ein kurzes Spazierenrollen werden, doch dann startet die Frau den Flieger, wendet es, beschleunigt und fliegt weg. Das Ende von Larisa Schepitkos „Flügel“ (UdSSR 1966) kann man als Bild einer weiblichen Befreiung sehen – oder aber als das finale Eingeständnis der Protagonistin, einer entfremdeten Kriegsveteranin, dass sie mit der neuen Generation der 1960er Jahre nie klarkommen wird …

Der Mangel von Frauen auf dem Regiestuhl wird immer wieder diskutiert, ob kurz vor den Oscars oder in Cannes. Das diesjährige goEast Festival hat nun genau hingeschaut und Regisseurinnen aus Osteuropa zwei Programmsektionen gewidmet. Zu sehen war eine beeindruckende Vielfalt: Avantgardistisches und Visionäres gab es ebenso wie intime Autorenfilme oder gar „unpersönliches“ Mainstream-Kino.

Die Ungarin Márta Mészáros, der eine eigene Reihe gewidmet war, lässt sich wohl am besten als intime Filmautorin sehen: figurenzentrierte Dramen, teils autobiografisch, gefilmt mit einem dokumentarischen und dabei immer zärtlichen Blick. „Tagebuch für meine Kinder“ (Ungarn 1982), der erste Teil ihrer autobiografischen „Tagebuch“-Tetralogie, erzählt die Coming-of-Age-Geschichte einer Teenagerin während der stalinistischen Ära in Ungarn. Mit ruhiger Hand zeichnet Mészáros nach, wie autoritäre Machtstrukturen, blinder Fanatismus und schleichende Paranoia das Leben einer Familie vergiften. Die „Reluctant Feminists“ (so der Titel einer Programmsektion) waren und sind nicht nur Frauen, sondern auch Interventen in die Erinnerung an die Gewaltgeschichten des 20. Jahrhunderts. Das betrifft nicht nur Mészáros und das stalinistische Ungarn.

In „Für die, die nicht sprechen können“ (Bosnien-Herzegowina, 2013) stößt eine australische Touristin im bosnisch-serbischen Grenzgebiet auf ein Hotel, das in den jugoslawischen Zerfallskriegen als Vergewaltigungslager diente. Wie Regisseurin Jasmila Žbanić und Autorin-Darstellerin Kym Vercoe sich zu Geschichtspolitik positionieren, indem sie Fragen entwickeln, statt eine moralisch erhabene Haltung einzunehmen, „triviale“ Bilder von Brücken, Straßen oder Türen durch den Zuschauer selbst „aufladen“ lassen, statt exploitative Bilder simulierter Gewalt zu inszenieren – davon könnte sich das deutsche Historienkino eine Scheibe abschneiden.

FOR THOSE WHO CAN TELL NO TALES (©Jasmila Žbanic)

Statt zum Arzt zu gehen, wie ein gewisser Bundeskanzler einst empfahl, bannte manch eine Regisseurin ihre Visionen auf die Leinwand. Věra Chytilová, Ikone der Tschechoslowakischen Neuen Welle, war ohne Zweifel eine rebellische Bilderstürmerin. Das zeigt auch „Spiel um den Apfel“ (ČSSR 1976), eine sexy Screwball-Komödie um die Techtelmechtel eines Gynäkologen auf einer Geburtsstation. Während in der ČSSR die Partei mit eiserner Hand regierte, herrschen in diesem Film purer Wahnsinn und fröhliches Chaos. Tomaten werden mit Fingern aufgespießt, schwangere Bäuche aufgeschlitzt (für einen Kaiserschnitt), in tristen Mansardenwohnungen wird munter gevögelt – die entfesselte Handkamera kreist und tanzt in manischen Weitwinkelbildern um das Ganze herum.

Die größte Überraschung dieses goEast war freilich Binka Zhelyazkovas „Das letzte Wort“ (Bulgarien, 1973). Frauenknast-Drama, Musical, feministisch-antiautoritäres Aufbegehren und eine ungestüme Energie, die man mit dem Besten aus der Nouvelle Vague und dem italienischen Genrekino verbindet – mit diesen Zutaten zaubert das „bad girl des bulgarischen Kinos“ ein Brett von einem Film. Einige Frauen warten Anfang der 1940er Jahre in der Todeszelle eines faschistischen Gefängnisses auf ihre Hinrichtung und trotzen den Schikanen ihrer Wärter mit Performancekunst-artigen Aktionen. Unterbrochen, oder besser gesagt ergänzt (die Übergänge sind unvermittelt), wird dieser Handlungsstrang immer wieder von expressionistischen Rückblenden, fetzigen Balkanrock-Einlagen und dokumentarischen Bildern einer Gedenkfeier für die gefallenen Antifaschisten. Für die Wiederaufführung von solch funkelnden Perlen des abseitigen, „vergessenen“ Kinos sollte man wie auch Frau dem goEast Festival auf Knien danken.

DAVID LEUENBERGER