Sach- statt Lachgeschichten
Der Sach-Comic boomt seit Langem. Auch die Sparte der biographischen Graphic Novels bringt eine Flut an Veröffentlichungen mit sich. Wir geben ein wenig Orientierung, indem wir zwei Titel genauer vorstellen.
Besonders die Feuilletons der Zeitungen und die Kulturmagazine der Öffentlich-Rechtlichen haben die Biographie in Comicform für sich entdeckt – vor allem, wenn darin Personen der Zeitgeschichte porträtiert werden. Der italienische Zeichner Michele Petrucci hat sich diesbezüglich an Reinhold Messner versucht: Auf mehreren Zeitebenen erzählt Petrucci „Das Leben eines Extrembergsteigers“ (so der Untertitel seiner Graphic Novel) nicht nur in ungewohnter Optik (Aquarell), sondern in noch ungewohnterem Layout, nämlich mit Hochkant-Panels. Von der vertikalen Leserichtung geht es dann aber in die Breite, wenn Messners Streben sich weg von den Bergen und zu den Weiten der Pole und Wüsten orientiert – ein netter Kniff! Auf den gut 80 Seiten wird kaum gesprochen; fast alles findet im inneren Monolog Messners statt. Nicht selten scheint es dabei, als sei der naturbegeisterte Ich-Erzähler sein eigener größter Fan. Ein wenig anstrengend wirkt zwischen Petruccis tollen Bildern auch das bedeutungsschwangere Gerede über das menschliche Dasein, die Einsamkeit und das Bergsteigen an sich. Wer aber solche Inspiration sucht, wird mit diesem ersten Messner-Comic gut bedient.
Mehr Auswahl hat der Comic-Freund, wenn er etwas über eines der berühmtesten Mädchen der Geschichte erfahren möchte: Nachdem der Verlag S. Fischer das „Graphic Diary“ zu Anne Frank herausgebracht hatte (siehe MULTIMANIA Nr. 66), zog Carlsen mit einer neuen Ausgabe des biographischen Comics DAS LEBEN VON ANNE FRANK nach. Der ist zeichnerisch simpler – man könnte auch sagen: klassischer – gehalten als das Comic-Tagebuch, vermittelt aber eine immense Menge Kontextwissen: Der Band erinnert an ein illustriertes Geschichtsbuch, oft mit einer Parallelmontage von Zeitgeschichte und Familienalbum (Anne mit Babybrei trifft auf die Weltwirtschaftskrise). Wichtige Ereignisse werden dabei auf so genannten „Schlaglicht“-Seiten erläutert. Leider bleiben die „Schlaglichter“ für sich genommen zu kursorisch, um wirklich hilfreich zu sein – man kann die Vernichtungslager oder die Wannseekonferenz schlichtweg nicht in einer Handvoll Panels erklären. Für den begleitenden Einsatz im Schulunterricht scheint DAS LEBEN VON ANNE FRANK aber sehr gut geeignet, zumal auch vom Sprachstil eher junge Leser angesprochen werden (was umso erfreulicher ist!).
Trotz der Informationsvielfalt ist der Comic sehr personenbezogen und widmet sich – anders als der Titel vermuten ließe – nicht bloß Anne, sondern dem Schicksal ihrer Familie und unzähliger Personen aus dem Umfeld: Nachbarn, Geschäftspartner des Vaters, Annes Schulfreunde. Positiv fällt auf, dass Anne nicht losgelöst von ihrer Umgebung als idealisierte, nachdenkliche „Heldin“ dargestellt wird, sondern als trotziger Teenager, der sie wohl ebenfalls war.
Wenngleich man das traurige Ende bereits kennt, fiebert man beim Lesen mit, wie es mit den Franks weitergeht. Dazu gehört natürlich auch die Entdeckung, die Verhaftung, später die Zeit im KZ. Hier hält der Comic konsequenterweise nicht hinter den Berg mit Bildern und Fakten, jedenfalls so weit, dass man es Heranwachsenden zumuten kann. Doch auch als Erwachsener sind manche Seiten nicht einfach zu lesen – und das, obwohl man das Wissen um die Unmenschlichkeit des Holocaust bereits hat; die Zeichnungen geben ihm eine andere, neuartige Unmittelbarkeit.
Der Comic erzählt aber auch nach Annes Tod im KZ Bergen-Belsen die Geschichte weiter: die Veröffentlichung des Tagebuchs durch ihren Vater Otto, die internationale Rezeption und Annes Erbe in Form des Anne Frank Hauses, das jährlich tausende Besucher anzieht, die sich mit ihrem Schicksal auseinandersetzen – und mit ihrem Schreiben. Dieser Comic kann dafür ein Einstieg sein.
Frank Kaltofen
Produktinfos:
TITEL: Das Leben von Anne Frank
AUTOR/ ZEICHNUNGEN: Ernie Colon, Sid Jacobson
VERLAG: Carlsen
ERSCHEINUNGSFORM/SEITENZAHL: Softcover, 160 Seiten
veröffentlicht
TITEL: Reinhold Messner – Das Leben eines Extrembergsteigers
AUTOR/ ZEICHNUNGEN: Michele Petrucci
VERLAG: Knesebeck
ERSCHEINUNGSFORM/SEITENZAHL: Hardcover, 88 Seiten
veröffentlicht