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Von Krähen, rauen Helden und großen Abenteuern

Eine Gruppe kauziger Antihelden, eine unmöglich erscheinende Mission und die Aussicht auf ein besseres Leben. Das sind die Zutaten für den neuen Roman DAS LIED DER KRÄHEN von Fantasy-Autorin Leigh Bardugo. Die ungewöhnlichen Figuren, ihr Zusammenspiel und der raue Charme sorgen für ein überzeugendes und spannendes Lesevergnügen.


In Ketterdam lebt es sich nicht immer leicht, denn obwohl die Hafenstadt einiges zu bieten hat, treiben sich dort auch eine Menge zwielichtiger Gestalten herum. Verfeindete Banden lauern aufeinander, und in jeder Ecke warten Betrüger nur darauf, Arglosen ihr Geld abzuluchsen. In dieser Welt hat Kaz Bekker sich einen Namen gemacht. Als rechte Hand eines einflussreichen Bandenchefs genießt er gewisse Privilegien, muss allerdings auch immer Acht darauf geben, dass ihm niemand die Kehle aufschlitzt. Eines Tages erhält er ein äußerst verlockendes Jobangebot: Ein Wissenschaftler, der ein gefährliches Mittel entwickelt hat, soll aus einem der sichersten Anlagen der Welt herausgeholt werden. Bei Gelingen winkt allerdings ein Haufen Geld.

Kaz nimmt an und macht sich daran, die besten Leute des Krähenclubs für diese Mission zu gewinnen. Da wären beispielsweise die ehemalige Akrobatin Inej, die magisch begabte Nina und der furchtlose Jesper. Zudem holt er Charaktere an Bord, die mit ihren besonderen Kenntnissen förderlich für das gefährliche Vorhaben sind. Der ungleiche Trupp wagt die Reise, und keiner weiß, ob sie überhaupt in ihre Heimat zurückkehren werden.

Sie kann sich zwar nicht neben den Jugendbuch-Autorinnen Stephenie Meyer und Suzanne Collins einreihen, was ihre Bekanntheit angeht, aber was nicht ist, kann ja noch werden. Denn mit ihrer Grischa-Trilogie, bestehend aus den von 2012 bis 2014 erschienenen Büchern „Goldene Flammen“, „Eisige Wellen“ und „Lodernde Schwingen“, hat Leigh Bardugo eine Fantasy-Saga geschaffen, die in ihrer Wucht und dem Fantasiereichtum stark an die berühmten Reihen „Twilight“ und „Die Tribute von Panem“ erinnert.

Ihr neuster Roman DAS LIED DER KRÄHEN spielt in der gleichen erdachten Welt, kann aber unabhängig davon betrachtet werden. So können auch Leser, die noch kein Bardugo-Werk in Händen hielten, sorglos einsteigen. Es braucht vielleicht 20 Seiten zum Warmwerden mit dem Schauplatz, den Figuren und den größeren Zusammenhängen. Doch dann ist es schon geschehen: Man hat sich in Ketterdam eingefunden und ist gespannt, ob die ungleiche Gruppe ihre unmöglich erscheinende Mission schaffen wird. Nach und nach eröffnen sich Verbindungen zwischen den einzelnen Figuren, und jede erhält immer mehr Tiefe und Facettenreichtum. Dazu trägt auch die Methode der Autorin bei, pro Kapitel zwischen den Figuren hin- und herzuwechseln und aus ihren Perspektiven zu berichten. Dadurch wird deren Innenleben reihum beleuchtet. Bei dem, was sie bereits durchgemacht haben, vergisst man leicht, dass die Helden, na ja, besser gesagt, Antihelden noch halbe Kinder sind.

Dadurch wird übrigens eine weitere Parallele zu den Erfolgsbüchern von Stephenie Meyer und Suzanne Collins deutlich: Auch bei der Grischa-Saga und DAS LIED DER KRÄHEN handelt es sich um Jugendbücher. Allerdings vergisst man das beim Lesen ziemlich schnell – oder es ist einem nur stellenweise bewusst. Denn trotz ihres jungen Alters sind die Figuren bereits mit allerhand Grausamkeiten konfrontiert worden und weit davon entfernt, ein behütetes Leben zu führen. Von üblichen Teenager-Sorgen kann keine Rede sein, und dennoch geht es im Kern um elementare Dinge: Freundschaft, Liebe, Anerkennung, und ein sorgenfreies Leben. Universelle Themen in ein fantastischen Gewand gehüllt – das ist der in Jerusalem geborenen Autorin auf beeindruckende Art und Weise gelungen. Das Buch der 42-Jährigen war in den USA bereits auf Platz eins der Verkaufscharts und wird sicherlich auch in Deutschland viele Leser überzeugen – nicht nur Jugendliche.

Aber was macht DAS LIED DER KRÄHEN so intensiv? Ganz klar, es liegt vor allem an den Figuren und der Liebe, die Leigh Bardugo in deren Ausarbeitung legt. Auf den ersten Blick ist die Truppe eher ein chaotischer Haufen, von denen jeder mit unterschiedlichen Fähigkeiten ausgestattet ist. Doch beim zweiten und dritten Hinsehen wird deutlich, dass sie sich gut ergänzen und gemeinsam stärker sind, als je vermutet. Die Autorin beweist ein gutes Händchen dafür, all ihren Figuren Leben einzuhauchen – sowohl für sich genommen als auch im Zusammenspiel mit den anderen. Dabei bewegt sie sich meist entgegen üblicher Muster. Denn keiner von ihnen ist nur gut oder nur böse, sondern das bisherige Leben hat aus jedem von ihnen einen Menschen gemacht, der sich durchschlagen muss – häufig mehr schlecht als recht. Ein reines Gewissen kann keiner sein Eigen nennen. Dieser raue Charme, der nicht nur die einzelnen Figuren, sondern auch die gesamte Geschichte umgibt, ist genau das, was den Fantasy-Roman DAS LIED DER KRÄHEN ausmacht. Genau damit nimmt die Autorin den Leser gefangen, und es fällt schwer, das Buch wieder aus der Hand zu legen. Werden Kaz und seine Gefährten das Unmögliche schaffen?

Eines sei verraten: Ein paar Überraschungen erwarten den Leser, bevor diese Frage eine Antwort bekommt. Und man ist doch ein bisschen traurig, wenn man am Ende das Buch zuschlägt und weiß, dass die Reise mit dieser besonderen Gruppe nun vorbei ist. Aber es gibt einen Trost: Auf der letzten Seite dieses Buches ist die Geschichte noch nicht in Gänze erzählt. Ein Wiedersehen liegt also nahe, zum Glück.

CARMEN PORSCHEN

Titel: DAS LIED DER KRÄHEN

Autor: Leigh Bardugo

Verlag: Knaur

Seiten: 592

Bildrechte: Knaur Verlag