Starker Bilck auf den Der Nahost-Komplex

Mit DER NAHOST-KOMPLEX liefert Natalie Amiri einen vielstimmigen Blick auf eine Region, in der jeder Konflikt Fäden zu hundert anderen zieht – und Verständnis zur seltensten Ressource wird.

Der 7. Oktober 2023 löste eine weltweite Welle der Empörung aus, als die Terrororganisation Hamas bei einem Überraschungsangriff auf Israel mehr als 1.200 unschuldige Israelis tötete und mehr als 200 Geiseln in den Gazastreifen verschleppte. Es folgte die israelische Reaktion und ein Mehrfrontenkrieg gegen den Libanon, Jemen und Iran. Diese Reaktion stieß im Westen auf Kritik, da Israel den Gaza-Krieg auch dazu nutzte, Angriffe auf den Iran zu führen und innerhalb von zwölf Tagen das Regime zu schwächen, das die Hamas und Hisbollah unterstützt. In der Folge spaltete sich die Außenwirkung des Krieges: pro oder contra Israel oder Palästina. 

Natalie Amiri vergleicht die Situation im Nahen Osten in ihrem Buch DER NAHOST-KOMPLEX mit einem Schachspiel, bei dem „Züge auf vielen Brettern gleichzeitig“ gemacht werden – jeder Zug auf dem einen Brett löst Bewegungen auf dem anderen aus. Im Zuge ihrer Untersuchung sprach Amiri mit über 200 verschiedenen Menschen aus der Region und webt deren Geschichten in ihre Analyse ein. So entstand ein Mix aus Reportage, Analyse und vor allem diversen menschlichen Perspektiven auf eine gespaltene und hochkomplexe Region.

Die deutsch-iranische Journalistin hat bereits mehrere Bücher über den Nahen Osten geschrieben, darunter „Zwischen den Welten. Von Macht und Ohnmacht im Iran“ und „Afghanistan. Unbesiegter Verlierer“. Dabei ist Amiri stets hautnah dabei, reist in die betroffenen Regionen, sucht den direkten Kontakt zu den Menschen und bemüht sich, die Perspektiven aller Seiten zu verstehen und objektiv wiederzugeben. So reiste sie nach Damaskus, als das Assad-Regime fiel, und dokumentierte die Freude der Syrer, aber auch ihre Ratlosigkeit darüber, wie es mit dem Land nun weitergeht. In DER NAHOST-KOMPLEX versucht Amiri, die Vielschichtigkeit des bereits seit Generationen schwelenden Konflikts vor Ort darzustellen und ihn im Vergleich zur Eindimensionalität der westlichen Sichtweise zu analysieren. Die Intention des Buches ist klar: Verständnis für alle Seiten zu schaffen. Was also überwiegt nach der Lektüre des Buches? Die Hoffnung, dass gegenseitiges Verständnis den Weg zum Frieden auf allen Seiten ebnen kann. Das Buch zeigt, dass der Konflikt viel tiefer geht, als wir im Westen wahrnehmen – unsere Sichtweise kratzt nur an der Oberfläche.

ISABELL SCHLOTT