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Sorry, aber ich bin in den Matschhaufen gefallen

Schmelzende Herzen kennt man – aber schmelzende Gehirne? Ja, sicher: Wenn einem irgendein Quark erzählt wird, dann zerfließen einem sprichwörtlich schon mal die kleinen grauen Zellen. Ob das dem Horror-Altmeister-Mangaka Junji Ito in den Sinn kam, als er die Kurzgeschichten für DISSOLVING CLASSROOM schrieb, ist unbekannt.

Aber man kann sich gut vorstellen, dass er vielleicht den Film „Street Trash“ (das Original von 1987 – das 2024er-Remake kann man getrost vergessen) gesehen haben mag. Es ist ein grandioser, schwarzhumoriger Low-Budget-Schocker, der mit ungewöhnlich harter Sozialkritik den Blick auf Obdachlose in New York City wirft. Kurz zusammengefasst: Vergifteter Schnaps lässt die Körper der gesellschaftlichen Verlierer buchstäblich zerfließen.

Wie auch immer: Bei Body-Horror-Spezialist Ito wird jedenfalls kräftig geschmoddert – aber nicht, um Mitleid zu erzeugen, sondern um die tief in der japanischen Kultur verankerten öffentlichen Entschuldigungen anzuprangern. (Dieser Fetisch scheint den Mangaka offenbar zu nerven.) Man entschuldigt sich im Land der aufgehenden Sonne praktisch für alles. Es gibt allein sieben verschiedene Arten, um auf Japanisch „Sorry“ zu sagen – oft verbunden mit tiefer Verbeugung oder gar der knienden Haltung, Stirn am Boden inklusive.

Und damit wären wir beim Thema: Oberschüler Yuma und seine kleine Schwester Chizumi lassen gern (?) Gehirne schmelzen. Denn Yuma entschuldigt sich für alles – immer, überall, bei jedem. Wer eine hohe Anzahl von Sorrys von ihm hört, dessen Gehirn und Körper verflüssigt sich. Und praktisch jede der fünf Kurzgeschichten endet mit einem widerwärtigen Haufen Menschmatsch.

Er sei mit dem Teufel im Bunde, erklärt die dauerschmatzende Schwester Chizumi. Weil sie sich ungebührlich – ein Sakrileg in der japanischen Gesellschaft! – gegenüber allem verhält und gern die verflüssigten Menschen schlürft, entschuldigt sich Yuma natürlich ständig für sie.

Das vermeintlich irre Mädel hat zwar ein herzensgutes, kindliches Gemüt, eckt damit aber ständig an. In Episode Nummer vier – ein kleines Highlight dieser kurzweiligen Geschichtensammlung – ist sie verliebt in einen Jungen. Den schleckt sie gern ab. Dass das auf wenig Gegenliebe stößt, dürfte sogar Westeuropäern einleuchten.

Meister Itos schwarzer Humor tropft wie die Gehirne aus allen 180 Seiten dieser witzig-ekligen Kurzgeschichtensammlung. Für Connaisseurs ab 16 gilt: Lesen! Lesen! Lesen!

MARCUS CISLAK

Titel: DISSOLVING CLASSROOM
Autor:  Junji Ito
Zeichner: Junji Ito 
Verlag: Carlsen
Seitenzahl: 180 Seiten
Verkaufsstart: veröffentlicht