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goEast Filmfestival 2022

Vier Tage erlebte Filmkultur in Wiesbaden: Ein Bericht zum goEast – Festival des mittel- und osteuropäischen Films.

Das goEast – 22. Festival des mittel- und osteuropäischen Films fand dieses Jahr mit einem bitteren Beigeschmack statt. In der Ukraine tobt bekanntlich ein Krieg, dem auch der – laut ukrainischen Pressemeldungen – am 03. April ermordete litauische Filmemacher Mantas Kvedaravičius zum Opfer fiel. Also wurde die sonntägliche Matinee kurzfristig umgeplant und seine 2016 entstandene Dokumentation MARIUPOLIS in der Sektion „Special“ ins Programm aufgenommen, die den Alltag der bereits damals umkämpften Stadt in der Südukraine thematisiert. Auch wenn die Bilder einschlagender Granaten in der Ferne und Radionachrichten von Kämpfen auch aus dem Heute stammen könnten: MARIUPOLIS fehlt letztlich ein menschliches Antlitz. Ein Schuster, ein Fischer und eine Tanztruppe griechischer Folklore sind nur einige der vielen in unvorteilhaften Einstellungsgrößen eingefangenen Protagonisten, von denen der Zuschauer kaum etwas erfährt. Der Film geht nur einmal durch Mark und Bein: Wenn gegen die groben Digitalkamerabildern einer hektischen, mit Geige unterlegten Kriegsszenerie einer Wohnsiedlung die Einstellung einer idyllischen Auenlandschaft mit schüchternem Hase geschnitten wird.

Auch der im Ende des 19. Jahrhunderts in Jakutien (Nordostrussland) situierte Wettbewerbs-Film NUCCHA von Filmemacher Vladimir Munkuev ist ein Russe ein feindlicher Aggressor, der letztlich die Paarbeziehung von Habji und Keremes mit Billigung des Dorfoberen zerstört. Besonders in Erinnerung bleibt in einem Nebenplot eine Zeremonie, wie eine sterbewillige Frau mit einer dünnen Tierhaut über dem Kopf lebendig begraben wird. Doch die Beiträge aus dem diesjährigen Wettbewerb bestechen durch ihre Verschiedenheit. JANUAR (siehe Foto) von Andrey M. Paounov um zwei Männer, die ein abgelegenes Hotel irgendwo in Bulgarien winterfest halten, strotzt etwa vor Skurrilitäten: Ein Nussknack-Automat, immer mehr gefrorene Wölfe und dann in den letzten 20 Minuten doch noch Farbtupfer im Schwarz-Weiß, wenn die absurde Komödie doch noch in die sich längst aufdrängende „Shining“-Hommage kippt.

Wirkliches Genre-Kino sucht man im starken Wettbewerb allerdings vergebens. So ist auch die deutsch-ungarische Co-Produktion SANFT (Regie: Anna Nemes, Laszlo Csuja) um eine Bodybuilderin, die bereits seit 10 Jahren den Traum von „Miss Universe“ nachjagt, vor allem ein packendes, sehr bewegendes Drama. Auch wenn der Film in der Erfüllung zuweilen befremdlicher sexueller Vorlieben einiger Männer, welche die Protagonistin Edina (im doppelten Sinne stark: Eszter Csonka) zur Finanzierung ihres gefährlichen Dopings finanziert, zuweilen surreal anmutet. Gern hätte man besonders bei dieser Vorstellung am Samstagabend zur Primetime in der wunderschönen Caligari Filmbühne Fragen an Cast & Crew gestellt, doch – so hieß es bei mehreren Filmprojektionen seitens der Veranstalter immer wieder – erst am Sonntag sei mit Filmschaffenden als Gästen zu rechnen. Doof nur, wer – wie ich – da nach der Matinee bereits in den Zug nach Hause steigen muss.


Im Caligari waren beim goEast 2022 auch die Handvoll Filme zu sehen, welche nicht digital, sondern als 35 mm-Filmkopie projiziert wurden. Mir war als Freund des Filmkorns nur die Projektion von WALZER AUF DER PETSCHORA vergönnt, in der zehn Filme umfassenden Sektion Hommage an Lana Gogoberidze. Es ist der persönlichste Film der georgischen Filmemacherin, die darin kurz nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion 1992 ihre eigene Jugend aufarbeitete – mit einem Vater, der trotz Bekanntschaft und Korrespondenz mit Josef Stalin seinem Großen Terror zum Opfer fiel, und einer Mutter, die zehn Jahre Gulag überlebte – und in dem eigentlichen Farbfilm in Schwarz-Weiß als Voice Over Briefe an ihre Tochter spricht.



Die inzwischen 93-Jährige war auf dem Festival zu Gast und erzählte im Q&A im Anschluss des Films im Gespräch mit der kuratierenden Filmwissenschaftlerin Gaby Babić (siehe Foto) lebhaft über die Entstehung des Films und die Versuche eines Geheimdienstagenten, sie als KGB-Spionin anzuwerben. Die Virtuosität, mit denen Lana Gogoberidze Musik in ihren Filmen einsetzt, wird vor allem in ihrem ungleich früheren Film EINIGE INTERVIEWS AUF PERSÖNLICHE FRAGEN (1978) deutlich, wenn sie beschwingt-aufgeregte Orchestermusik bei der Suche der Kinder nach ihrem vermissten Hund gegen ein traurig-schwermütiges Klavierthema montiert, wenn ihre Eltern beim Spaziergang durch die Stadt ihre Ehe überdenken. Die Projektion dieses Films fand in einer für mich neuen Spielstätte, dem Theater im Pariser Hof statt, welcher es durch seine kleinen, verwinkelten Räume jedoch etwas an Kino-Charme fehlte. Das ungleich pompös-heimeligere Casino musste den steinern-unterkühlten Hallen vom Museum Wiesbaden als "Festivalstützpunkt" weichen. Immerhin lud ein davor geparkter K67-Ostkiosk besonders am Freitagabend zu Musik aus der Konserve gut zwei Dutzend Festivalbesucher und -gäste zum Cornern und Chillen auf den Museumstreppen ein - pandemiekonform wohl eine ganz gute Lösung.



Trotzdem steht das goEast auch 2023 wieder in meinem Kalender, nicht zuletzt wegen seiner vielen versteckten Filmperlen. Highlight für mich: DIE PASSAGIERIN (siehe Foto) aus dem Jahr 1963 in der Symposium-Sektion. Filmemacher Andrzej Munk starb vor Fertigstellung seines Films an einem Autounfall – und so werden Standfotos einer Kreuzfahrt gegen Rückblenden aus dem Konzentrationslager Auschwitz gegenübergestellt, wo SS-Aufseherin Liza zunächst mit subjektiv-geschöntem Voice Over über ihr Verhältnis zur inhaftierten Marta berichtet, bevor sich später durch ihre direkte Rede die Erzählperspektive wandelt. Großartig ist eine Szene, in der das Gefangenen-Orchester eine Darbietung für die Aufseher gibt – und sich Martas Liebe Walter nicht nur langsam an sie heranpirscht, sondern auch das Heulen und Fauchen einer Lokomotive die dramatischen Klänge von Bach durchschneidet. Ein Moment voller Poesie und Grausamkeit, die nach langer Zeit des Friedens in Form eines Krieges aktuell wieder zurück ist in Europa.

LUTZ GRANERT

Fotos: @goEast; Interview-Foto: Lutz Granert

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