Gelebtes Anderssein: Das goEast-Filmfestival 2024
Das goEast 2024: Queere Lebensentwürfe seit den 1930er Jahren, jugoslawische Wundertüten, die Wiederentdeckung eines Coming-of-Age-Meisterwerks und Halbgares aus der Ukraine.
Nach meiner Ankunft am Freitagnachmittag in Wiesbaden schüttelte ich zweimal fassungslos den Kopf. Neben einer Kurtaxe von 5 Euro pro Übernachtung (Spitzenplatz in Deutschland!), die ich beim Einchecken im Hotel berappen musste, sorgte auch eine schroffe ukrainische Filmemacherin auf dem "goEast"-Filmfestival in einem Q&A für mein Unverständnis. Maryna Vroda stellte sich zu ihrem Sozialdrama STEPNE apodiktisch-giftig den Fragen des Publikums. Sie wollte ihre Masterarbeit an der Filmuniversität Konrad Wolf in Babelsberg als Reflektion aktueller russisch-ukrainischer Verhältnisse verstanden wissen – obwohl es bereits 2020 noch vor dem Krieg gedreht wurde. Mit dem Bosnien-Krieg sei die Situation vor Ort ohnehin nicht vergleichbar, bügelte sie eine Frage aus dem Publikum ab, und sowieso solle die EU endlich „zu ihrer Verantwortung“ stehen, heißt: ohne Gezeter fleißig Waffen und Kriegsgerät liefern. Soviel umstrittene Tagespolitik hätte man der Fragestunde zu einem Film gar nicht zugetraut, der in entsättigten, düsteren Bildern zentral um einen Leichenschmaus kreist, in der die Dorfbewohner eines abgelegenen Landstrichs von ihrem entbehrungsreichem Leben berichten. Die Zeit scheint hier auf Kutschen, Karren und ohne technisches Gerät geronnen zu sein, nur ein Immobilienmakler mit Freisprecher im Ohr zeigt eine Verortung in der Gegenwart.
STEPNE sollte für mich auf dem goEast 2024 der einzige Beitrag aus dem Wettbewerb bleiben, denn ich schaute mir verstärkt Filme aus dem Symposium mit Filmklassikern an. Motto dieses Jahr: Die „anderen“ Queers. STROGIY YUNOSHA („Der strenge Jüngling“) aus der ehemaligen UdSSR gelang es bereits 1936 sehr subtil, homoerotische Beziehungen anzudeuten: Der Arzt Dr. Stepanow nimmt eine Liaison seiner Frau Masha mit dem jungen Kommunisten Grisha eher belustigt zur Kenntnis. Grisha ist aber arg verschüchtert, träumt sich lieber in kitschig-artifizielle Begegnungen seiner Masha (großartige Setdesigns eines künstlichen Walds und eines von Springbrunnen umfassten Bühnenpodests!) als real weitere Schritte zu unternehmen. Die offene Kritik am Kommunismus (Gleichheit bedeute Stillstand, Wettbewerb Fortschritt heißt es einmal) blieb in der mit viel Situationskomik aufwartenden Beziehungskomödie auch der sowjetischen Zensur nicht verborgen. Leider scheint der Ton bei diesem Film nur partiell erhalten zu sein, brach ab und wirkte wenig austariert.
Das in der Ukraine gedrehte Drama DUBRAVKA aus dem Jahr 1967 in derselben Sektion war die (Wieder-)Entdeckung des Festivals! Ebenso leichtfüßig wie authentisch wird das sexuelle Erwachen des titelgebenden Mädchens (ukrainisch auch: „kleiner Wald“) im Sommer am Schwarzen Meer erzählt. Der Wildfang ist im Schwimmen ein Ass – findet aber weder bei jüngeren Jungen beim Fußball, noch bei Jünglingen beim Theaterspielen Anschluss. Sie verliebt sich in die ältere, bildhübsche Ingenieurin Valentina. Zettelchen schreiben, Blumen schenken, am Strand aneinander lehnen – das sind in diesem unendlich sympathischen Film die subtilen Gesten der Zuneigung. DUBRAVKA ist ein sonnendurchflutetes, einfühlsames Meisterwerk des Coming-of-Age-Films! Valentina sei wie ein Regenbogen, heißt es einmal – ob danach das Symbol der LGBT-Community entstand, welches inzwischen auch den Kreisverkehr an der Murnaustraße schmückt, die in Wiesbaden zum gleichnamigen Filmtheater und Festivalspielort führt? Diese Frage musste auch beim anschließenden Filmgespräch offen bleiben.