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Exground - FIlmfest

Das exground-Filmfest präsentiert jedes Jahr unabhängige Filmproduktionen aus der ganzen Welt. Bei der diesjährigen 30. Ausgabe (17.-26. November) waren Regiedebütanten ebenso vertreten wie alte Veteranen. Die Türkei stand im Fokus des Länderschwerpunktes.

Vor etwa 25 Jahren wurde der Begriff „New Queer Cinema“ für eine Reihe von unabhängig produzierten Filmen geprägt, die sich nicht nur offen mit queeren Themen beschäftigten, sondern vor allem kämpferisch, zornig, oft auch sehr poetisch gegen Homophobie und der Gleichgültigkeit gegenüber HIV und AIDS Position bezogen. Nun... Derek Jarman starb bereits 1994, Todd Haynes und Gus van Sant haben ihre Themen nach und nach in die Gefilde des Mainstream-Kinos geschmuggelt und Gregg Araki macht jetzt nur noch Serien. Zum Glück trägt jetzt die französische Produktion „120 BPM“ die Fackel des „New Queer Cinema“ weiter und liefert zugleich so etwas wie einen „Meta-Film“ zur Bewegung: ein intensives, ehrerbietiges, keineswegs aber nostalgisches Portrait der Act-Up-Bewegung im Paris der frühen 1990er Jahre. Der Spielfilm folgt dem Alltag einiger Dutzend Aktivisten, die mit provokanten Aktionen Gesellschaft, Politik und Wirtschaft in Sachen AIDS aufrütteln wollen. Die Büroräume von Pharmakonzernen werden besetzt, Parties von Versicherungen gestürmt, Beamte der staatlichen AIDS-Kommission mit Farbbeuteln beworfen – die Aktionen werden nie offen gewalttätig, sind aber doch so ruppig, dass Act Up selbst bei andern AIDS-Aktivisten sowie bei Schwulenverbänden umstritten ist. „120 BPM“ präsentiert sich über weite Strecken als reiner Ensemblefilm mit knapp über einem Dutzend Figuren und ist ebenso stürmisch, zornig und lebensdurstig wie seine Protagonisten. Autor und Regisseur Robin Campillo, selber ein ehemaliger Aktivist von Act-Up, schwingt hier nicht die pädagogische Keule des Message-Movies: konventionelle Genre-Dramaturgie sucht man ebenso vergebens wie aufdringliche Wertungen – ob manch eine der eskalierenden Act-Up-Aktionen zu weit geht oder wie ehrlich die Deklarationen der Pharmaindustrie-Unterhändler tatsächlich sind, muss jeder Zuschauer für sich entscheiden. In kurzweiligen 140 Minuten wird der rauschhafte Zustand, in den sich die Aktivisten bei kontroversen Meetings, hektischen Aktionen und Disco-Besuchen zum Feierabend hineinsteigern, durch das hohe Erzähltempo und die elliptischen, assoziativen Montagen geradezu fühlbar. Ein durch und durch zeitgenössischer Film, der seit 30. November in deutschen Kinos läuft.

Ebenso mit queerer Thematik beschäftigte sich „Weirdos“ von Bruce McDonald (bekannt durch seinen außergewöhnlichen Zombiefilm „Pontypool“): das Roadmovie in Schwarzweiß folgt dem Ausreißen der zwei Teenager Kit und Alice in der kanadischen Provinz anno 1976. Im Gegensatz zu „120 BPM“ präsentiert sich „Weirdos“ tatsächlich als Retro-Feelgoodmovie und verhebt sich dabei etwas an seinen eigenen Ansprüchen. Coming-of-Age- und Coming-Out-Drama mit Generationen-Clash, zahlreiche Pop- und Undergroundkulturanspielungen, der verblasste Traum von 1968 und die darauffolgende Katerstimmung – alles wird ein bisschen nebeneinander, meistens in gestelzten Dialogen, verhandelt, ohne dabei zu einem schlüssigen Ganzen zu werden. Vor allem leidet „Weirdos“ an einer strukturellen Dissonanz: Julia Sarah Stone (Alice) ist eine ungleich charismatischere und expressivere Darstellerin als der lediglich solide Dylan Authors (Kit) – doch der Film stellt Kits Drama, sein schmerzhaftes Coming-Out gegenüber seiner Freundin, seine problematische Beziehung zu seiner Mutter, in den Mittelpunkt. Wie ungleich spannender wäre „Weirdos“ mit Alice als Hauptfigur geworden.

Von dem unendlichen Weltschmerz, ein Teenager zu sein, erzählt auch „How to Talk to Girls at Parties“, spielt allerdings ein Jahr nach „Weirdos“: wir befinden uns 1977 in einem Londoner Vorort, und während die Queen ihr Thron-Jubiläum feiert, rockt die Punk-Jugend zu den Klängen der Sex Pistols ab. So auch Enn, der sich auf einer mysteriösen Party in Zan verliebt – und die ist zufällig eine anthropomorphe Außerirdische, die selbst gegen die Ihren rebelliert und die es nach mehr Punk in ihrem Leben dürstet. Leider weiß „How to Talk to Girls at Parties“aus seiner einfachen Prämisse „Punks meet Aliens“ recht wenig anzufangen und hetzt sich so sehr durch seine zahlreichen Wendungen, dass darüber sein größtes Potential – die Liebesgeschichte zwischen Enn und Zan – auf der Strecke bleibt.

Als absolut herausragend erwies sich der internationale Kurzfilmwettbewerb mit seinen 17 Beiträgen, die in ihrer Vielfalt an Genres, Themen und Ästhetiken kaum einen Wunsch offen ließen. Drei Filme seien hier besonders hervorzuheben. Der New Yorker Filmemacher Bill Morrison begeistert Freunde des Experimentalfilms schon seit Jahren mit Montagen aus Stummfilmen zu elektronischer Musik: in „The Dockworker’s Dream“ hat er Ausschnitte aus Dokumentar-, Industrie- und Amateurfilmen zusammengeführt, die er in portugiesischen Filmarchiven gefunden hat. Abgesehen vom rein hypnotischen Sog, die die archaisch wirkenden Bilder mit der elektronischen Musik entwickeln kann man „The Dockworker’s Dream“ in der zweiten Hälfte, mit einen Amateurfilmen von Safaris, durchaus als Kommentar zur Geschichte des portugiesischen Kolonialismus sehen.

„Les misérables“ von Ladj Ly zeigt ein Trio von Polizisten beim Einsatz in einer Pariser „banlieue“. Als einer von ihnen bei einer Verhaftung einen Mann tötet, wird er von der Drohne eines Jugendlichen gefilmt – und eine Jagd auf den störenden Augenzeugen beginnt. In knapp einer Viertelstunde enthüllt „Les misérables“ die Ähnlichkeit, ja geradezu die unheilvolle Symbiose zwischen repressivem Polizeiapparat und den mafiösen Strukturen in den „staatsfernen“ Vorstädten. Dabei ist Ly vor allem aber auch ein ungemein spannender und mitreißender Cop-Thriller gelungen: großes Genre-Kino – in nur 15 Minuten!

In dem türkischen Kurzfilm „Asfalt“ geht es um patriarchalische Strukturen, um eine Ehekrise, um das Tabuthema Fehlgeburt. Ein Mann und eine Frau sitzen auf der Rückbank eines Taxis, schweigen sich größtenteils an, während draußen in der vorbeiziehenden Landschaft zunehmend der Wahnsinn tobt: stürmischer Regen, umstürzende Bäume, brennende Äcker, Dutzende abgeschlachtete Kühe. Regisseur Süleyman Demirel „thematisiert“ in „Asfalt“ nichts, sondern konzentriert alles auf engstem Raum: der komplette Film spielt im Inneren des Autos, und das meisterhaft genutzte Cinemascope-Format steigert die alptraumhafte Klaustrophobie der Situation.

Die Angst davor, keine Kinder zu bekommen, die das soziale Prestige aufwerten – davon handelt auch Mehmet Can Mertoğlus Debüt-Langfilm „Albüm“: ein kinderloses Ehepaar inszeniert mit einem falschen Bauch und gestellten Bildern eine Schwangerschaft und bereitet im Geheimen eine Adoption vor. Als diese schließlich gelingt, gerät das „Projekt Kind“ und das damit eingehende Prestige durch mehrere Zwischenfälle in Gefahr... „Albüm“ ist Gift und Galle: eine bitterböse, schwarze Groteske, eine gnadenlose Kampfansage gegen kleinbürgerliche Spießermentalität. Brav in die Kamera lächeln – und kurz danach hasserfüllt gegen syrische Flüchtlinge und Kurden hetzen; nach einem starken Staat rufen – und sich dann empören, dass dieser so viele persönliche Daten zur Verfügung hat. In einem Land, das zunehmend autoritär regiert wird und in dem Männlichkeitskult, Nationalismus und ein zunehmend schroffer Ton gegen alles, was anders ist, muss „Albüm“ zwangsläufig Sprengpotential haben (und wurde, so Mehmet Can Mertoğlu beim Q & A, in der Türkei nur von einer Minderheit des Publikums begeistert aufgenommen). Tatsächlich ist der Film aber auch international relevant. Das aufdringliche Präsentieren der Kinder zur Aufwertung des sozialen Prestiges in Kombination mit aggressiven Männlichkeitsfantasien und rassistischer Hetze ist schließlich auch hierzulande kein Randphänomen. Als Kameramann fungierte der Rumäne Marius Panduru, und Mertoğlu betonte beim Q & A den Einfluss der „Neuen Rumänischen Welle“ auf seinen Film: die präzise kadrierten, meist bewegungslosen Tableaus verstärken den Eindruck, einer (sozialen) Versuchsanordnung beim Reagieren, Eskalieren und schließlich Explodieren zuzusehen. Dass es sich bei „Albüm“ um einen Erstlingsfilm handelt, mag man kaum glauben.

Ebenso unglaublich ist, dass der neueste Film des großen New Yorker Independent-Rebellen Abel Ferrara an einem Samstag Abend, im prestigereichsten Kino einer deutschen Landeshauptstadt, bei einem kleinen, aber renommierten Filmfestival... lediglich 14 Besucher anzog, darunter zudem eine Festival-Mitarbeiterin, zwei Filmregisseure aus dem Kurzfilmwettbewerb sowie ein Pressemensch (der Verfasser dieser Zeilen). Diese „leere“, aber irgendwie intime, quasi-verschworene Atmosphäre passte dann doch „Alive in France“, der im Grunde ein abendfüllendes Heimvideo ist. Zusammen mit seinem langjährigen Filmkomponisten Joe Delia am Klavier, Schauspieler Paul Hipp an der Gitarre, seiner Ehefrau als Background-Sängerin und einigen lokalen Musikern gibt Abel Ferrara eine Konzerttournee durch Frankreich, begleitend zu einer wandernden Retrospektive seiner Filme. Und mehr passiert in „Alive in France“ dann auch nicht. Durch Hotellobbys und französische Altstadtgassen schlendern, ein paar Konzertflyer an Kids verteilen, die ihn nicht kennen, ein paar Q & A bei Filmvorführungen, zwischendurch ein improvisierter Rap auf der Straße, ein paar lockere Konzerte in kleinen Clubs, wo sich Abel, Paul, Joe & Co. auch von betrunkenen, pöbelnden Zuschauerinnen nicht beeindrucken lassen – und fertig ist Abels kleines Heimvideo! Ein betont anspruchsloser Film mit einer lockeren, freien Form, den man sich bei einem schönen Bier gemütlich zusammen mit 13 Fremden in einem überdimensionierten Kinosaal anschauen kann. „Alive in France“ ist kein großes Kino und auch kein großer Ferrara, aber im Grunde ist er die ultimative Bestätigung der „politique des auteurs“: das locker aus dem Ärmel geschüttelte Heimvideo eines auteurs ist tausendmal interessanter als jeglicher „Qualitätsfilm“ eines Filmtechnokraten.

DAVID LEUENBERGER

 

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