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Top 5 der Comics 2018

Top 5 der COMICS 2018

Ein buntes Jahr voller Comic-Veröffentlichungen liegt hinter uns, in dem wir wieder unzählige Hefte und Alben gelesen und für euch rezensiert haben. Unser Comic-Redakteur Frank Kaltofen stellt seine 5 Lieblingscomics des Jahres 2018 vor.

Lobende Erwähnung (1): „Mein Weg mit Vanessa“ (Aladin Verlag)

Schafft es nur deshalb nicht in die Top 5, weil es eigentlich kein Comic, sondern ein gezeichnetes Bilderbuch für Kinder ist. Aber was macht ein gutes Bilderbuch eigentlich aus? Vermutlich dass es auch ohne Worte – und damit auch für die Kleinsten – funktioniert und dennoch etwas zu sagen hat, das sogar die Erwachsenen berührt. „Mein Weg mit Vanessa“ ist solch ein seltener Vertreter. Die Geschichte über Hänseleien unter Kindern verdeutlicht auf wunderbare Weise, welchen Einfluss ein erster individueller Schritt haben kann – und wie im Wortsinn kinderleicht es ist, jemandem zu helfen, wenn man sich bloß fragt ‚Wie würde ich mich fühlen, wenn ich an ihrer oder seiner Stelle wäre?‘ Schon darum: Bitte im Dutzend bestellen und dann in den Kindergartengruppen mit den Kleinen durchblättern!

Lobende Erwähnung (2): „Dickmadam, die lachte“ (Schreiber & Leser)

Manche Comics sind im besten Sinn des Wortes merkwürdig – mitunter verrückt, wie ein seltsamer Fiebertraum. Eine solch absonderliche Story bietet „Dickmadam, die lachte“, gezeichnet von Benoît Springer nach einem Szenario von Zidrou. Der Straußenfarmer Pep erschlägt eines nachts seine Frau und wirft sie in einen alten Brunnen-Schacht. Als er nach Hause zurückkehrt, steht sie in der heimischen Küche und erwartet ihn mit Kaffee... Wie Pep wissen auch wir als Leser bald nicht mehr, was eigentlich real ist. Inspiriert vom französischen Chanson „Elle était souriante“ (zu Deutsch: „Und sie lachte“) liefert Zidrou eine packende, teils verstörende Gewaltorgie mit Mysterie-Einschlag. Eine Art grotesker Kurzfilm in Comicform sozusagen.

Nun aber zu meinen Top 5 des Jahres 2018 – in alphabetischer Reihenfolge, denn jeder aus diesem Quintett ist „der Beste“, wenn man ihr gerade gelesen hat.

Courtney Crumrin Band 1 (dani books)

Junge Protagonistin entfesselt magische Kräfte – klingt nach Genre-Klischees? Ganz und gar nicht! „Courtney Crumrin“ von Ted Naifeh zeigt, wie ein unterhaltsamer Comic für alle Altersstufen aussieht. Bei dani books erschien 2018 die kolorierte Fassung erstmals auf Deutsch. Courtney ist eigentlich ein ganz normaler Teenager. Doch ihre drögen Eltern ziehen mit ihr ins Haus ihres Großonkels Aloysius – und das seltsame Spukhaus hält allerlei Überraschungen bereit. Courtney erleben wir als süffisant und clever, aber eben auch als normales Mädchen, das sich – ganz menschlich – auch mal gehässig verhält oder einfach nur von allen in Ruhe gelassen werden will. Ted Naifeh schafft es, seine junge Protagonistin zugänglich und authentisch zu gestalten, trotz eines magisch-obskuren Settings mit Kobolden, Druden und sprechenden Katzen. Die hinzugekommene Kolorierung ist eine echte Bereicherung, verleiht sie den Bildern doch vor allem in den mystischen Passagen eine passgenau abgestimmte Atmosphäre. Der hintergründige Humor von Ted Naifeh tut sein Übriges zum Lesevergnügen. Selbst wer mit Magie und Fantasy nichts anfangen kann, aber sich noch an seine Teenager-Zeit erinnert, wird bei diesem Comic schmunzeln und mit Courtney leiden, ohne an gängigen Klischees kleben zu bleiben.

Die Spinne von Maschhad (Edition Moderne)

Der semi-dokumentarische Comic des Exil-Iraners Mana Neyestani (bekannt durch „Ein iranischer Alptraum“) die Entstehung eines Dokumentarfilms über den Frauenmörder Said Hanai, der als „Spinne von Maschhad“ im Iran bekannt wurde. Wir begleiten die Journalistin Roya Karimi Majd sowie den Filmemacher und Aktivisten Maziar Bahari. Beide treffen u.a. den Mörder selbst, der aus religiöser Überzeugung Prostituierte getötet hatte und dafür zum Tode verurteilt worden war. Das Geschehen spielt sich auf mehreren Ebenen ab: Im Zentrum steht die Jetzt-Ebene mit Filmdreh und Interviews, doch immer wieder gibt es Verbindungen durch geschickt eingebaute Rückblenden. Diese Übergänge sind meisterhaft umgesetzt – zum Beispiel, wenn der Täter von seiner Kindheit erzählt und plötzlich der Interviewerin als kleiner Junge gegenübersitzt. Inhaltlich stellt der Comic dabei interessante Fragen, etwa: Wie entwickelt sich religiöser Fanatismus – und wie reproduziert er sich? Es ist wahrlich nichts für schwache Gemüter, wie der Sohn stolz beschreibt, wie genau sein Vater die „lasterhaften Frauen“ ermordet hat. Es ist Neyestanis Verdienst, dass sein Comic dennoch nie ins Voyeuristische kippt. Auch werden weder Täter noch Opfer entmenschlicht. Edition Moderne hat hier mal wieder ganz große Comic-Kunst auf den deutschsprachigen Markt gebracht. Der Film von Maziar Bahari („And Along Came a Spider“) ist übrigens frei zugänglich bei YouTube zu finden. Im Iran darf er nicht gezeigt werden.

Gérard – Fünf Jahre am Rockzipfel von Depardieu (Reprodukt)

Der französische Zeichner Mathieu Sapin hat Gérard Depardieu über mehrere Jahre begleitet, woraus diese Comic-Reportage hervorgegangen ist. So unerhört und vermutlich einmalig dieser Entstehungskontext, so außergewöhnlich sind auch die resultierenden 150 Seiten. Natürlich: Depardieu ist keine unumstrittene Gestalt. Das muss er aber auch nicht sein. Denn Mathieu Sapin hat etwas geschaffen, das anders ist als die unzähligen gezeichneten Biopics und Reportage-Comics, die fast monatlich erscheinen. Das liegt vor allem daran, dass hier regelmäßig die vierte Wand wackelt und uns Lesern bewusst wird, dass wir beim Betrachten der Panels gleichzeitig Zeuge ihres Entstehungsprozesses sind. Das allein macht „Gérard“ schon außergewöhnlich und interessant – auch wenn nicht im eigentlichen Sinne viel „passiert“: Es gibt keine Story im herkömmlichen Sinn, natürlich aber einen roten Faden anhand der Bekanntschaft zwischen Depardieu und Sapin. Und wir sind immer mit dabei: Depardieu, wie er schwitzt und flucht und isst – und all das sehr oft und ausgiebig. Wie er – als Stalin zurechtgeschminkt – in einer Badewanne sitzt und die Set-Mitarbeiter anbrüllt, weil ihm das Wasser zu kalt ist. Wie er aber auch geduldig mit zahllosen Fans in jedem kleinen Bergdorf Selfies macht oder selbstreflektiert über seine Macken spricht. Sapin lässt sich nicht durch Depardieus Überpräsenz einlullen, verteufelt ihn aber auch nicht für seine Macken. Was jedoch noch wichtiger ist: Er gibt sein Gegenüber nicht der Lächerlichkeit preis, auch wenn der cartoon-artige Zeichenstil sich dafür anbieten würde. Stattdessen konzentriert sich Sapin mit minutiöser Beobachtungsgabe auch auf kleinste Details, auf die er uns durch kurze Kommentare an den Panels aufmerksam macht: Was hängt an der Wand? Welche Zeitschrift liegt auf dem Tisch? Welche Person steht im Hintergrund, wenn Depardieu wichtige Gespräche führt? So werden wir dank Sapin stille Zeugen der vielen Begegnungen mit Depardieu – und können uns vielleicht glücklich schätzen, dass wir nicht selbst dabei sein mussten.

IKON (Avant)

Simon Schwartz hat ein Faible für außergewöhnliche Biographien – wer das Schaffen des gebürtigen Erfurters in den letzten Jahren verfolgt hat, wird dafür zahlreiche Beispiele vor Augen haben. In seiner bislang umfangreichsten Graphic Novel „Ikon“ folgt Schwartz der wahren Geschichte von Gleb Botkin, Sohn des Leibarztes des russischen Zaren. Nach der Oktoberrevolution und der Mordaktion der Bolschewisten an der Zarenfamilie geht er ins Exil in die USA, leidet aber seelisch schwer unter dem Verlust seiner engen Jugendfreundin, der Zarentochter Anastasia. Für eben diese wird eine junge psychisch gestörte Frau gehalten, die 1920 in einer Berliner Nervenheilanstalt auftaucht. Später treffen die beiden aufeinander – und der spirituell entwurzelte Botkin projiziert all seine Leidenschaft in die neu aufgetauchte vermeintliche Anastasia. So ist „IKON“ vor allem eine Geschichte über die Ikonisierung von Personen. Simon Schwartz verwebt dabei in einer kunstvollen Erzählstruktur mehrere Zeitebenen in seinem charakteristischen Zeichenstil. Gekonnt meistert er die zahlreichen Wendungen durch den häufigen Wechsel der Zeitebenen, ohne in der Erzählweise abgehackt zu wirken. Damit bleibt „IKON“ fesselnd bis zur letzten Seite. Und nebenbei erfährt man sogar noch etwas über die traditionelle Entstehung und Bedeutung russischer Ikonen. Was will man mehr?

Illegal – Die Geschichte einer Flucht (Rowohlt/ Rotfuchs)

Der junge Ebo bricht in seinem Heimatdorf im Niger auf, um seinen großen Bruder zu finden, der sich auf den Weg nach Europa gemacht hat. Vor dem klugen und willensstarken Jungen liegt ein langer und gefährlicher Weg – durch die Sahara, dann über das Mittelmeer in einem überfüllten, alles andere als seetüchtigen Boot. Eoin Colfer und Andrew Donkin erzählen diese lebensbedrohliche Reise auf spannende Art, aber ohne die naheliegende Tränendrüse oder die reißerische Darstellung von Leid. Im Gegenteil: Bebildert vom italienischen Comiczeichner Giovanni Rigano, gewinnt Ebos Geschichte eine oft farbenfrohe Optik und wird so leichter zugänglich für jüngere Leser. Durch die geschickte Parallelmontage zweier Zeitebenen ist „Illegal“ zudem enorm spannend erzählt. Und das wichtigste Wort eröffnet als Zeitangabe rund die Hälfte der Kapitel: „Jetzt“: Diese Dinge geschehen jetzt gerade, vor unserer europäischen Haustür. Kinder treiben auf dem Mittelmeer, fragen „Wir werden sterben, oder?“ – und ausgerechnet ein Comic kommentiert dies treffender, als 100 kluge Zeitungsseiten es können. Die Sequenzialität des Mediums Comic, die jedem Leser seinen eigenen Rhythmus im Geschehen erlaubt, offenbart ihre Einzigartigkeit selten so gelungen wie auf diesen 130 Seiten. Es geht hier nicht um vermeintlich gierige Migranten, die in Form einer anonym-entmenschlichten Welle an Europas Küsten drängen. Es sind Einzelpersonen, mit Namen, mit Familie, mit Vorstellungen von der Zukunft. „Es ist dies keine Reise, die leichthin angetreten wird“, heißt es im Nachwort treffend. „Ein jeder, der sich dazu entschließt, hat seine eigenen Gründe dafür. Und ein jeder davon ist ein Mensch.“

 

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