Boy’s Love Is In The Air
Das „Boy’s Love“-Genre erfreut sich in deutschen Gefilden großer Beliebtheit. Die Geschichten um erste, aufkeimende Gefühle zwischen zwei Männern, stets gepaart mit ein bisschen Drama, verkaufen sich wie warme Semmeln beim Bäcker an einem Samstagmorgen. Zeit für einen tieferen Blick.
Die Nachkriegszeit Japans war geprägt von gesellschaftlicher Stabilisierung und dem Wiederaufbau der zahlreichen zerbombten Städte. In dieser Phase dominieren – der Ordnung willen – konservative Werte und traditionelle Geschlechterrollen.
Erste soziale Umbrüche etablieren sich während der 1960er Jahre. Studentenbewegungen, Feminismus und neue Jugendkulturen bilden sich aus und finden auf vielfältige Weise ihren Weg in die modern werdende Gesellschaft. Es entstehen neue Räume für experimentelle Kunst, das schließt den Manga-Sektor natürlich mit ein.
Während der 1970er Jahre entstanden die ersten Werke um das „Boy’s Love“-Genre (oder auch Shonen-ai). Künstlerinnen wie Moto Hagio und Keiko Takemiya sind erste Pionierinnen – Keiko Takemiyas Werk „Kaze to Ki no Uta“ erscheint am 29. Februar 1976. Erzählt wird die Geschichte zwischen zwei sehr ungleichen jungen Männern – Serge Battour und Gilbert Cocteau. Beide besuchen eine reine Jungenschule.
Gilbert ist bekannt dafür, mit jedem ins Bett zu steigen – wenn sich dadurch für ihn Vorteile ergeben. Serge möchte lediglich die Zeit nutzen, um Freundschaften zu schließen und in die aristokratischen Fußstapfen seines Vaters zu treten. Indessen erblickt Gilbert, der sich lange Zeit größter Beliebtheit erfreute, in Serge, dessen Anhängerschaft rapide wächst, einen Rivalen, was dazu führt, dass beide sich zunehmend selbst schaden, während sie sich einander zugleich annähern.
Einzigartig für dieses Manga ist eine unverhüllte Bettszene – wenngleich perfekt zensiert, wird sie im prüden Japan zu einer Sensation – der Grundstein für das Genre ist gelegt.
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Nicht alles ist Eigenregie
Neben eigenen Ideen wie „Kaze to Ki no Uta“ nutzen einige Künstler bereits bestehende Erzählungen, um die vorhandenen Figuren in ihrer Fantasie gemeinsame Abenteuer erleben zu lassen – ähnlich wie Fanfiction, nur eben gezeichnet. Diese Form der Kunst nennt sich „Doujinshi“ und beginnt ebenfalls in den 1970ern, ihren Schatten vorauszuwerfen, der bis heute reicht.
„Doujinshi“ sind – da sie nicht verlagsgebunden sind – expliziter. Im Boy’s-Love-Bereich wird nicht zensiert oder abgeschwächt, erotische Szenen werden bis ins kleinste Detail gezeigt. Aus diesem erhebt sich das „Yaoi“-Genre – eben die stark sexualisierte Variante des Boy’s Love. Diese Werke, gerade weil sie Figuren nutzen, die sehr beliebt sind, tragen weiter zur Popularisierung des Boy’s Love bei.
In den 1980er Jahren erkennen die Verlage den Trend und etablieren eigene Magazine, um das Marktsegment der männlichen Liebesgeschichten zu bedienen. In den 1990ern erscheinen monatlich Dutzende Magazine, die diesem Genre gewidmet sind, das bis heute ungebrochen beliebt ist.
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Einordnung und Gründe der Beliebtheit
Viele Boy’s-Love-Geschichten werden überwiegend von Frauen für Frauen produziert. Sie bieten eine Form von „safe space“, in dem romantische und sexuelle Themen jenseits traditioneller Geschlechterrollen verhandelt werden. Weibliche Leserinnen können sich mit den Figuren identifizieren, ohne selbst direkt in ein patriarchales Rollenmuster eingebunden zu sein – Beziehungen erhalten einen anderen, klareren Blick, und Sexualität wird nicht länger aus Männeraugen betrachtet.
Geschichten des Genres betonen Gefühle, Sehnsucht und innere Konflikte stärker und weitreichender als viele heterosexuelle Liebesgeschichten. Die männlichen Figuren sind zudem androgyn, wunderschön, teils sportlich, aber auch verletzlich. Wenn man so will, sind sie der Gegenentwurf zum traditionellen Bild eines Mannes. Zudem erlaubt es das Genre, dass Frauen romantische und sexuelle Dynamiken erleben, ohne dass die weibliche Figur in eine klischeehafte Rolle gedrängt wird.
Die Fanbase rund um das Genre ist groß. Es haben sich in sozialen Netzwerken wie Reddit, Instagram oder TikTok ganze Gruppen gebildet, die diesem Genre frönen – ob selbst aktiv als Schreiber oder Zeichner oder einfach im Zeichnen von Bildern. Die Community bietet Unterstützung und vor allem Verbundenheit.
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Fazit:
Das Genre ist mehr als nur reine Unterhaltung. Was als Experimentierfeld in den 1970er Jahren begann, ist heute rund um den Globus zu einem beliebten Genre geworden: Vorstellungen von Liebe, Sexualität und Geschlechterrollen zu erkunden. Seine Beliebtheit bei Frauen und Jugendlichen erklärt sich aus der Mischung von emotionaler Intensität, ästhetischer Schönheit und der Möglichkeit, gesellschaftliche Normen spielerisch zu hinterfragen.
LILI SCHMIRGAL